Anastasia Schmidt

Von Wintern und Wintern

10 Zentimeter Neuschnee, Temperaturen um -5 Grad am Tag, nachts bis -12 Grad. Für Januar in der Region durchaus winterlich. Für Anastasia Schmidt ist das nur ein „kleiner Hauch" von Winter. In der Region Altai, in Westsibirien, geboren und aufgewachsen, ist sie in Sachen Eis und Schnee mehr gewöhnt.

»Im Winter hatte wir dort -35 Grad und weniger. Die Schneeberge waren so hoch, dass wir aus den Fenstern im Erdgeschoss nur Schnee sehen konnten. Dick eingepackt gingen wir jeden Tag zur Schule, außer bei Schneestürmen. Das war zu gefährlich. Dann durften wir zuhause bleiben.« Zuhause war sie in Halbstadt, dem Verwaltungszentrum des Deutschen Nationalkreises Altai. Der kleine Bezirk liegt an der Grenze zu Kasachstan und gehört zu dem rund 13 Millionen Quadratkilometer großen Gebietes Sibirien.

1981 geboren, erlebte sie die Sowjetunionderen Niedergang 1991 und die damit verbundene Auswanderungswelle von Deutschstämmigen. „In Halbstadt hatte so gut wie jeder deutsche Wurzeln. Alle sprachen deutsch und als die Grenzen offen waren, wanderten immer mehr aus." Ihre Eltern blieben bis 1993, dann entschlossen auch die sich, nach Deutschland auszuwandern. Für Anastasia Schmidt ging damit ein sehnlicher Wunsch in Erfüllung. „Es gab im Ort einen Laden,

 

in dem man unter anderem Schokoriegel aus dem Westen kaufen konnte. Ich weiß heute noch, wie gut Snickers, Twix und Mars schmeckten. Ich konnte eine halbe Stunde an einem Riegel essen und stellte mir dabei vor, wie toll es in Deutschland ist." Als der Ausreiseantrag für die vierköpfige Familie gestellt und kurz darauf bewilligt war, begannen ihre Eltern das alte Leben jenseits des Urals aufzulösen. In Deutschland wartete die Zukunft.

Dieses Datum werde ich wohl nie vergessen", erinnert sie sich. „Keiner wollte an einem Freitag den 13. in ein Flugzeug steigen. Meine Eltern waren nicht abergläubisch. Sie nutzten die Gelegenheit und so saßen wir in der Maschine nach Deutschland." Vom Norden Deutschlands, nach der Registrierung, über Zwischenstationen kamen sie nach Bopfingen. Dort bauten ihre Eltern, die beide in Russland angesehene Berufe hatten, eine neue Existenz auf. Anastasia machte ihren Schulabschluss und wurde Modeschneiderin. Ihr Ziel: Später einmal als Designerin

 

arbeiten. Anfang der 2000er trat dieser Wunsch in den Hintergrund. Sie lernte ihren Mann kennen, heiratete und der gemeinsame Sohn kam zur Welt. Ihre Begeisterung für Mode hat sie behalten. Beruflich hat sie sich umorientiert. „Meine Mutter war in Halbstadt in der Verwaltung. Sie hat die Statistiken für den Regierungsbezirk geführt – ganz ohne Computer. Das fand ich sehr faszinierend. Wahrscheinlich habe ich mich deshalb dazu entschieden, eine zweite Ausbildung im Bereich Buchhaltung zu machen." Seit Mai 2021 arbeitet sie bei der wd mediengruppe und hat unter anderem dort nicht nur regelmäßig die åla in der Hand, sondern auch alle buchhalterischen Fakten im Blick.

Ihre alte Heimat in Westsibirien hat sie Mitte der 1990er Jahre nochmal besucht. „Das war ein regelrechter Schock, als wir dort ankamen. Das hatte nichts mehr mit dem Ort meiner Kindheit zu tun. Es war zwar schön, Freunde und Verwandte wieder zusehen, aber mir war klar: Dort möchte ich nicht mehr leben." An ihre Kindheit erinnert sie sich hingegen gerne. Lange, kalte Winter mit Frost, der den Atem gefrieren lässt, zugefrorene Seen und Schnee, der zu Bergen aufgetürmt war. Die Sommer in der Region Altai sind heiß. Im Garten und auf den Feldern wuchsen

 

Kartoffeln, Obst und Gemüse, die, in Gläser eingemacht, in den Vorratskeller wanderten. „Wir Kinder mussten zwar helfen, wir hatten aber auch viele Freiheiten. Es war eine schöne und unbeschwerte Kindheit." 30 Jahre ist es her, dass Anastasia Schmidt, ihr älterer Bruder und ihre Eltern ausgewandert sind. Gemeinsam mit ihren Kindern und dem Familienhund lebt sie der Region und fühlt sich dort wohl. „Es waren nicht nur leichte Zeiten, die ich in den letzten drei Jahrzehnten meistern musste. Aber unterm Strich ich habe ich aus
allem etwas gelernt und immer etwas daraus gemacht."

Für das Startkapital verkauften sie ihre Wohnung, das Auto und die Kuh.  Einrichtungsgegenstände verschenkten sie, die wichtigsten persönlichen Sachen fanden in einem kleinen Container Platz. Anfang Oktober 1993 trafen sie die letzten Vorbereitungen für die Reise. Ein letztes Mal verabschiedeten sie sich von Freunden und Verwandten und bestiegen schließlich den Zug nach Moskau. Rund 3.500 Schienenkilometer und drei Zeitzonen gen Westen lagen bis Moskau vor ihnen. Zunächst in Richtung Omsk, auf die Strecke der Transsibirischen Eisenbahn. Durch menschenleeres Gebiet, über die Wolga und schließlich über den Ural; von Asien nach Europa. Nach drei Tagen Zugfahrt kamen sie in Moskau an. Von dort aus ging es wider Erwartens schnell. „Es war Freitag, der 13. Oktober.